Der Balanceakt im Beruf als Lehrkraft: Über Mental Load, Beziehungen und die Kultur des Zuhörens

Ich stehe einmal wieder im Lehrerzimmer. Frau M. und Herr K. unterhalten sich über eine Schülerin: „Ich habe echt die Schnauze voll, Helene ist schon wieder zu spät gekommen. Das war das fünfte Mal in Folge!“, sagt Frau M. Und Herr K. antwortet: „Ich weiß auch nicht mehr weiter mit ihr. Diese Generation!“ Und während die beiden sich unterhalten, fallen in anderen Klassenzimmern Appelle wie: „Mach doch endlich mal deine Hausaufgaben!“, „Bleib einmal ruhig sitzen!“, „Fokus, Fokus – hier vorne spielt die Musik!“

Kommt dir die beschriebene Situation bekannt vor? Sicherlich. Sollte hier der Eindruck entstanden sein, dass Lehrkräfte Unmenschen sind, dann möchte ich gleich ganz deutlich sagen: Das sind sie nicht! Und auch wenn jeder Mensch zahlreiche Stunden in der Schule verbracht hat, will ich hier auch all den Experten ohne Lehrerfahrung da draußen sagen: Nein, ihr wisst nicht, was es heißt, Lehrkraft zu sein, weil ihr irgendwann einmal selbst Schüler:in gewesen seid.

Dieser Blog-Beitrag verfolgt auch eine andere Absicht. Der Beruf einer Lehrkraft ist anstrengend, mich bringt er oft an die Grenzen meiner Kräfte. Der Mental Load ist extrem hoch. Und da ist es vollkommen normal, dass wir nicht immer richtig reagieren, nicht immer die Kapazitäten haben, allen Schüler:innen gerecht zu werden – und ganz ehrlich: Wäre das unser Anspruch, würden wir höchstwahrscheinlich daran kaputt gehen. Diese Lektion musste ich in den ersten Jahren als Lehrkraft erst einmal lernen. Damals bin ich noch mit dem Anspruch in die Klassen, jede:n zu 100 % erreichen zu wollen. Aber das geht nicht, das weiß ich heute. Und das muss ich auch nicht. Leider hat mir das im Ref keiner gesagt.

Also: Wenn das nicht geht, was geht denn dann?

Nehmen wir Frau M. von oben. Sie hätte auch anders reagieren können. Anstatt ihren Unmut über Helene im Lehrerzimmer zum Ausdruck zu bringen, hätte sie Helene fragen können: „Helene, warum kommst du in letzter Zeit so oft zu spät?“ Der Unterschied liegt darin, dass Frau M.s erste Reaktion Distanz zu Helene schafft. Die alternative Reaktion hingegen setzt Frau M. mit Helene in Beziehung, stellt einen Kontakt her.

Der Lernerfolg von Schüler:innen ist extrem abhängig von der Lehrer:in-Schüler:in-Beziehung. Als Lehrkraft müssen wir darum bemüht sein, die Schüler:innen in ihrer Komplexität sehen zu wollen. Wenn das gelingt, bekommen wir einen Zugang zu den jungen Menschen, im besten Falle vertrauen sie uns. Und auf Vertrauen muss diese besondere Beziehung beruhen. Vertrauen entsteht nicht nur durch das Gefühl des Gesehenwerdens, es gehört mehr dazu. Es entsteht da, wo Lernen kompetent, verlässlich und wertschätzend gestaltet ist. Es entsteht da, wo Lehrkräfte nicht nur Fragen stellen, sondern auch zuhören. John Hattie sagt, wir stellen unseren Schüler:innen viel zu viele Fragen, anstatt ihnen richtig zuzuhören. Eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler:innen zeichnet sich auch und vor allem durch eine Kultur des Zuhörens aus. Und Zuhören heißt konkret, dass wir Raum für Ideen, Wünsche, Gedanken, Gefühle und Fragen von Schüler:innen geben. Dass wir nicht blind einem vorgefertigten Plan folgen, sondern Schüler:innen das Lernen (und ich rede hier bewusst nicht vom Unterrichten) mitgestalten lassen, indem wir sie fragen, wie sie gerne lernen würden. Lehrkräfte sollten Schüler:innen zuhören, wenn es um die Fragen geht, was sie noch nicht verstanden haben, wo sie noch Fragen haben und wo sie Hilfe benötigen.

Vertrauen entsteht da, wo wir uns auf Augenhöhe begegnen, wo Lehrkräfte keine Anforderungen an ihre Schülerschaft stellen, die sie umgekehrt selbst nicht erfüllen. So sollte es selbstverständlich sein, dass Lehrkräfte die Namen ihrer Schüler:innen kennen und eine gewisse Ordnung bei ihren Tafelanschrieben einhalten, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Vertrauen braucht auch immer einen geschützten Raum. Schüler:innen müssen sich sicher fühlen können. Stellen wir uns nur einmal vor, Helene hätte das Gespräch zwischen Frau M. und Herrn K. mitbekommen …

Deshalb sollten wir Lehrkräfte uns auch für Gespräche über Schüler:innen immer einen sicheren Raum suchen. Auch wenn wir – und das sollte wirklich der Normalfall sein – wertschätzend über Schüler:innen sprechen, indem wir die Komplexität ihrer Persönlichkeiten ernst nehmen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Inhalte aus solchen Gesprächen auch missverstanden werden können. Und wie schnell werden solche Gespräche beiläufig geführt. Und wie schnell bekommt es doch jemand mit, der es nicht mitbekommen sollte.

Unser Beruf ist keine Rolle, er ist eine Haltung. Und das bedeutet eben auch, dass wir den Menschen, mit denen wir im Zuge unserer Tätigkeit in Kontakt kommen, mit Haltung begegnen. 

Und mir selbst und meinen Kolleg:innen möchte ich sagen: Wir waren selbst einmal Schüler:in, und wir wissen, wie sensibel, unsicher, verletzlich wir in dieser Zeit gewesen sind. Vergessen wir das nicht! Und manchmal hätten wir von unseren Lehrkräften etwas gebraucht, haben aber nicht geschafft, es zu äußern. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir unseren Schüler:innen immer wieder die Frage stellen: Was braucht ihr von uns?

Nein, ich weiß, dass es nicht leicht ist, all das als Lehrkraft zu erfüllen. Ich glaube auch nicht, dass das von uns erwartet wird – also sollten wir es auch nicht von uns selbst erwarten. Ich glaube, es reicht, wenn wir immer wieder zeigen, dass wir es versuchen, dass wir bemüht sind, das zu geben, was wir geben können. Alles andere wäre auch zu viel, denn es hätte niemand etwas davon, wenn wir unter unserem eigenen und dem fremden Anspruch zerbrechen würden.

In diesem Sinne: Passt auf euch auf – und auf eure Schüler:innen!